Deutsch-ukrainisches Buchprojekt:
„Eine Jacke, die sich nach dem Winter sehnt“
Der Krieg in der Ukraine prägt das Leben vieler Menschen. Nicht nur Ukrainer, die als Geflüchtete mit einem Leben in der Fremde konfrontiert sind, sondern auch Deutsche, die Anteil nehmen, Sprachbarrieren überwinden und sich zivilgesellschaftlich engagieren. So auch die drei Frauen Almut Baumgarten, Chrystyna Nazarkewytsch und Merle Tebbe, die in Eigeninitiative das deutsch-ukrainische Buch „Eine Jacke, die sich nach dem Winter sehnt“ veröffentlichten. Merle ist Alumna der Stiftung und hat für das Buch die Illustrationen gefertigt. Über das Projekt, welches 2023 mit dem Preis „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ der Bundeszentrale für politische Bildung ausgezeichnet wurde, haben wir mit ihr gesprochen.
Interview
mit Merle Tebbe
„Eine Jacke, die sich nach dem Winter sehnt“ – Merle, wie ist dieses Buchprojekt entstanden?
Die Autorin Almut Baumgarten hat nach dem Angriff auf die Ukraine eine geflüchtete Familie zu Hause aufgenommen. In dieser Zeit ist der Plan für eine illustrierte und zweisprachige Erzählung entstanden. Mit ihrem Text hat sie die wundervolle Chrystyna Nazarkewytsch aus Lwiw (Lemberg) als Übersetzerin und mich als Illustratorin und Buchgestalterin für das Projekt gewonnen. Wir waren also schon sehr früh Teil des Prozesses, der zu einer intensiven Teamarbeit wurde. Das Buch ist den zwei ukrainischen Mädchen gewidmet, die bei Almut gelebt haben.
Welche Idee steckt hinter dem Buchprojekt und welche Themen werden behandelt?
Mit dem Buch möchten wir eine Möglichkeit schaffen, sich gemeinsam über Sprachbarrieren hinweg mit dem Thema „Ankunft und Leben nach der Flucht“ zu beschäftigen, insbesondere für Gruppen, in denen Deutsch oder Ukrainisch auf unterschiedlichen Sprachniveaus gesprochen wird. Es bildet eine gemeinsame Basis für das Gespräch, unabhängig von der jeweiligen Sprachkenntnis. Die parallele Anordnung der zwei Sprachen ermöglicht paralleles Lesen und ist damit auch auf den Gebrauch im Unterricht für Schüler ab 8 Jahren ausgelegt. An den Lesungen in Schulklassen sind die ukrainischen Schülerinnen und Schüler als Co-Lesende beteiligt. Sie sind Hauptpersonen der Veranstaltung, Experten und Vermittler ihrer Erfahrungen und ihrer Sprache. Und die deutschsprachigen Schülerinnen und Schüler erfahren aus einer jungen Erzählperspektive, wie sich Heimweh und Sorge der Geflüchteten anfühlen mögen. Sie lernen Klang und Schriftbild der Sprache ihrer Klassenkameraden kennen. Sie erahnen die Leistung, die hinter dem Erwerb der Zweitsprache steckt.
»Mit dem Buch möchten wir eine Möglichkeit schaffen, sich gemeinsam über Sprachbarrieren hinweg mit dem Thema Ankunft und Leben nach der Flucht zu beschäftigen.«
Du hast die Illustrationen zu dem Buch gemacht. Was hat dich zu dem Projekt motiviert?
In Krisensituationen haben ja zum Glück die meisten von uns den Impuls, Hilfe zu leisten. Je nach Veranlagung und Möglichkeiten schaut das „Wie“ bei allen anders aus. Ich fühle mich am nützlichsten im konkreten Tun und Anpacken, hatte aber nicht die räumlichen Möglichkeiten, geflüchtete Menschen aufzunehmen. Durch unsere Freundschaft, habe ich Almuts Reise mitbekommen und die Familie kennengelernt. Die Erzählung in Kombination mit Illustration verbindet die simple Nützlichkeit von Lernmaterialien mit der tröstenden, menschlichen Kraft der Empathie. Ich denke gerade in Notsituationen ist es unfassbar wichtig, gesehen zu werden und das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass sich andere Menschen bemühen zu verstehen, nachzuempfinden und mit auszuhalten, ohne zu verharmlosen, zu verdrängen oder wieder gut machen zu wollen.
Wie bist du an deinen Illustrationen herangegangen, wie hat dich der Text dabei beeinflusst, was war dir dabei wichtig (zu transportieren)?
Der Text hat mich durch die szenische / episodische Erzählstruktur direkt an das Gefühl erinnert, das ich in meinen eigenen Krisensituationen empfunden habe: eine Art fragmentarische Wahrnehmung, in der alle Sinne geschärft sind und man sich zeitgleich verwirrt und verloren fühlt. Es ist, als ob Zeit nicht mehr linear abläuft und man alles gleichzeitig also z. B. auch manch unwichtige Details sehr intensiv empfindet. Verschiedene reale Eindrücke verschwimmen mit Erinnerungen, Vorstellungen oder Träumen zu einem Konglomerat aus nicht greifbaren Emotionen, die nicht zwingend nur düster sein müssen. Die Collagen-Stilistik der Buchillustrationen bietet durch ihre Abstraktion individuelle Interpretationsmöglichkeiten auf der Gefühlsebene und somit den Raum, die Intensität der eigenen Identifizierung oder Bezugnahme zum Thema selbst zu dosieren. Durch die eingearbeiteten konkreten oder symbolhaften Elemente, könnte man sich auch ganz nüchtern nur auf das Lernen von Begrifflichkeit konzentrieren.
Von der Idee bis zum fertigen Buch: Welche Herausforderungen gab es?
Eine Herausforderung im Prozess war sicherlich die Balance zwischen Qualität und Kostenpunkt des Buchs zu finden. Wir wollten ein Produkt, dass in Optik und Haptik dem Wert seines Inhalts entspricht, aber es sollte natürlich bezahlbar bleiben. Die größte Herausforderung stellte sich, als wir das Buch in der Hand hatten. Denn damit es noch 2022 erscheinen konnte, haben wir das Buch im Selbstverlag produziert. Und den Arbeitsaufwand für die Vermarktung haben wir unterschätzt.
Was war für dich ein ganz besonderer Moment im Projektverlauf?
Da gibt es gleich mehre: Einmal war es toll, Zeit mit der Familie zu verbringen, die inspirationsgebend für die Erzählung war. Dann war unsere Teamarbeit und wie wir drei im engen Austausch standen etwas sehr Wertvolles. Und ganz besonders habe ich mich noch über das Feedback einer Kinderpsychologin gefreut, die unser Buch für die Arbeit mit einem traumatisierten Flüchtlingskind genutzt hat, das wohl aufgrund der Bilder wieder angefangen hat in der Schule zu kommunizieren.
Euer Buch wurde 2023 als eines von 65 Projekten im Wettbewerb „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ der Bundeszentrale für politische Bildung ausgezeichnet und mit einem Preisgeld von 2.000 Euro belohnt. Herzlichen Glückwunsch nochmal! Wie wichtig sind für dich Demokratie und Toleranz in unserer Zivilgesellschaft?
Ich bin wohlbehütet in einer Kleinstadt aufgewachsen und von zwei Sozialpädagogen großgezogen worden. Die Kriegsgeschichten meiner Oma klangen wie aus einem anderen Leben. Für mich persönlich war es immer wichtig, aber auch selbstverständlich, demokratische Werte zu leben, emphatisch und tolerant zu sein. Jede Situation, die mich lehrte, dass dies nicht für alle Menschen gilt, hat mein Weltbild schwer erschüttert. Noch heute kann ich kaum begreifen, was Menschen in der Lage sind, sich gegenseitig anzutun. Das Privileg, in einem sicheren und demokratischen Land zu leben, ist mir sehr bewusst. Es ist alarmierend, wie Meinungen statt Fakten Gruppendynamiken gegen demokratische Werte steuern und wie Krisen und Ängste diese Dynamik befeuern. Die Verwundbarkeit der Demokratie, vor der meine Oma gewarnt hat, fühlt sich derzeit greifbar nah an und ich denke, die Menschen, die das System noch gut schützt, sind besonders in der Pflicht, aktiv für diese Werte einzustehen.